Als ich über dieses Jahr nachgedacht habe, darüber was passiert ist und was nicht, da fiel mir diese Geschichte wieder ein.
Ein Abend in Berlin. Zusammen gekocht, mit der Familie gegessen und anschließend ein wenig durch den Friedrichshainer Kiez geschlendert. Ein warmer Spätherbstabend. Gespräche über das, was uns Angst macht, was wir tun könnten, Pläne schmieden.
Irgendwo in einer Straßenabzweigung scheint in einem Laden noch Licht. Der Besitzer mit einem Glas Wein in der Hand winkt uns herein. Ich stehe in einem verwinkelten Antiquariat voller Bücher. Alle Bände von Adorno, vollständig, in der richtigen Reihenfolge. Alle Werke von Foucault aufgereiht. Alle da. Alles da. So chronologisch und sauber sortiert, dass es sich verbat etwas zu kaufen, weil ich dann die heilige Ordnung durcheinandergebracht hätte. Im Rückhaus wird an die gegenüberliegende Hauswand ein Film projiziert. Selbstgemachtes Freilichtkino. Tschechiches Arthouse. Von oben hören wir Klaviermusik. Weil es Berlin ist und nicht München und man da so etwas machen kann, gehen wir die Stufen hoch, immer der Musik nach.
In einem leergeräumten, kahlen Zimmer steht nur ein Flügel, an dem eine junge Frau sitzt und spielt. Ihr schräg gegenüber in einem Sessel ein Mann um die fünfzig, weinrote Cordhosen, die Beine übereinander geschlagen. Selten abwesend. Sie spielte nur für ihn. Die schönste Art jemanden zu verführen. Er blickt gelangweilt auf sein Handy und gibt sich unbeeindruckt. Er sieht uns und fordert uns mit einer Handbewegung auf, einzutreten. Und da standen wir dann mitten im Zimmer. Waren auf einmal Teil der Szenerie. Sie spielte noch hingebungsvoller, er genoss die Bühne, die das Ganze durch uns bekam. Umworben zu werden vor Augen anderer – das schien ihm zu gefallen. Ich war Zuschauer, Beobachter und gleichzeitig Teil der Inszenierung.
Diese Szene steht für so vieles in diesem, meinem Jahr. Dafür, dass ich mich nicht herausnehmen kann. Dafür, dass ich mich an Orten und in Situationen wiedergefunden habe, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Dafür, dass ich mich mit Nachrichten konfrontiert wurde, die ich nicht einordnen kann. Dafür, dass ich mich immer wieder fragen musste, welche Rolle ich spielen will. Und welche nicht. Dafür, dass so vieles nicht in meiner Hand liegt und einiges doch. Dafür, dass ich mich einlassen kann, mich überraschen lassen, treiben lassen darf.
In der letzten Woche, in der ich zu Hause ausgiebigst nichts und nur mir selbst wohlgetan habe, war ich vor allem eines: Dankbar. Immer wieder. Trotz allem. Dass ich das erleben kann, dass sich immer wieder so viel Überraschendes auftut, dass doch und trotz allem so viel möglich ist. Nicht kleinzukriegen, bin ich und diese große Dankbarkeit in mir. Ebenso wie der Wunsch, der Glaube, dass es auch anders geht. Auch der ewige Romantiker ist durch nichts zu erschüttern.
Danke fürs Lesen. Fürs da sein. Für kleine Karten, Mails, Notizen und Geschenke. Für richtige Momente.
P.S. Kleine Glücklich-mach-Entdeckung gestern: Fragen bei Okka, die man an 2016 stellen kann. Mit den richtigen Fragen beginnt alles.
Auf ein Neues.